Teil II: Körperliche Gebrechen
“Schick´ mir doch mal kurz den Link im Chat zu!” Eine Kollegin im Kachelformat fand das, was ich in einem Zoom-Meeting zum Besten gegeben habe, irgendwie interessant. Wahrscheinlich war sie die Einzige, die nicht zwischendurch mal Kaffeeholen gegangen ist. Total motiviert ob so viel Zuspruch suche ich den Link…den link…den Link…
Nicht der Link ist das Problem. Das Problem ist, dass ich ihn nicht sehen kann. Lauter Links verschwimmen vor meinen Augen zu einem einzigen Aquarell und ich spüre die bittere Wahrheit: Ich bin nicht nur älter, sondern auch kurzsichtiger geworden.
“Neee, das ist der Falsche!” tönt es aus dem digitalen Off. Hektisch suche ich meine Brille. Drüben, auf dem anderen Tisch, da liegt sie. “Einen Moment, bitte!” Video aus. Lautsprecher aus. Kopfhörer runter. Aufstehen. Im Kabel verfangen. Fast hingeknallt. Brille geholt. Hingesetzt. Kopfhörer auf. Frisur hinüber, Haare stehen hinten wie Federn ab, Link gesendet. “So, sorry, jetzt aber.” Ich bin so erleichtert. “Man hööööört Dich nicht! Du bist gemutet!!” Lautsprecher an. Video an. Das Grauen spricht. Warum muss ich mich immer sehen? Warum ist die Kamera so schlecht und ich sehe aus. als hätte ich blaue Haut? Oder habe ich blaue Haut?
Das Ausdrucken und senden eines Links per Brieftaube wäre relaxter gewesen.
Und nach mehreren Stunden Skype und Zoom und MS Teams im Wechsel kommen zur blauen Haut noch sich selbsttätig in unterschiedliche Richtungen drehende Augen dazu.
Ich brauch ´ne Pause. Die Work-Life-Balance sagt mit sanfter Stimme:” Suche einen anderen Platz auf, gehe etwas spazieren. Bereite Die bewusst und achtsam Körnerfraß zu. Genieße DEINEN Moment.”
Ich: Stulle geschmiert, zu dick Butter drauf, egal, zurück ans Notebook, E-Mails gecheckt, Stulle ´reingedrückt.
Doch, was ist das? Meine Hand ist taub! Da ist kein Gefühl mehr drin! Nach 20 Wochen Wartezeit erfahre ich vom Neurochirurgen, dass sei irgendein Syndrom, im Handgelenk (ach!), altersbedingt (ach!). NATÜRLICH altersbedingt, klar, mit 59 wird nix besser, das glaub´ man mal. Also muss ich zum Stuhlkissen, welches mein Rücken-Kreuz-ISG schützt und für teures Geld gekauft wurde zusätzlich eine Handstützauflage kaufen – plus eine Maus, die aussieht, als wäre sie bei der Betrachtung meines Schreibtischsanatoriums schockerstarrt auf die Seite gekippt und hätte sich nicht mehr aus der Totenstarre gelöst.
Mein Gott, Herr Olaf Scholz, wie sieht es denn bei mir in 10 Jahren aus? So lange soll ich Ihrer Meinung nach noch ackern, um meine Rente zu halten, die mir das Überleben sichern soll. Liegt nebenmeinem Notebook eine Sauerstoffmaske, falls mal jemand wieder das Meeting zur Selbstdarstellung nutzt? Steht da an Stelle eine Kaffeebechers eine Schnabeltasse? Allenfalls macht ein Hörgerät noch Sinn, das kann man zur Not unter dem Kopfhörer dann muten…
Ich war immer ganz froh, dass ich unserem Gesundheitssystem nicht zu sehr zur Last gefallen bin. Aber jetzt merke ich: Ich kann nicht mehr so gut einschlafen. Mich nehmen die Dinge, die wir in der Welt und ihren Lebewesen antun, deutlich mehr mit als früher. Dafür komme ich morgens nicht aus dem Bett und schleife mich wie ein nasser Sack ins Badezimmer. Sieht so ein erfolgreicher Mensch aus?
Und ich stelle fest, dass ich dünnhäutiger werde. Menschen, die anderen bewusst schaden wollen, rieche ich 100 km gegen den Wind. Ich stehe nicht “über den Dingen”, ich bin nicht altersmilde, ich möchte aber möglichst gar nicht mehr mit diesen Menschen zu tun haben. Das ist im Berufsleben nicht ganz einfach.
Und: Ich habe (wieder einmal) das Gefühl ich müsse mehr leisten als andere, damit nicht gesagt wird: “Naja, sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste”. Wieder einmal hießt es: In jungen Jahren strengst Du Dich extra an, damit sie Dich ernst nehmen. Als Mutter in Teilzeit strengst Du Dich extra an, damit nicht alle denken, Dein Gehirn sei mit dem Kind heraus geplumpst. Und jetzt wieder: Nein, ich gehöre nicht zum alten Eisen, seht nur, ich über nehme auch GERNE noch die Vertretung von Dir!
Aber Leute, damit ist jetzt Schluss. Ich reduziere meine Arbeitszeit. Einfach so. Einfach, um mehr Zeit für mich zu haben, jetzt, nicht erst in der Rente, in der ich mir ohnehin keine Mäuse mehr leisten kann. Einfach so, ohne Grund. Oder doch?
Silke Wöhrmann, Strategic Leadership Development, Coach, Autor, https://apt-human-management.de
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